09 Holodomor: Was hatten die Menschen durchlebt?

Zu Beginn machte sich in den ukrainischen Dörfern Angst breit. Schuld daran waren Vertreter der lokalen Behörden und sogenannte „Aktivisten“, die sich ständig in Gruppen bewegten und die Menschen Tag und Nacht terrorisierten. Diejenigen, welche die gesetzte Getreidenorm nicht erfüllt und nicht genügend Lebensmittel abgegeben hatten, wurden verprügelt, verspottet und gedemütigt. Aber auch die Aktivisten hatten Angst. Viele erlitten später das Schicksal ihrer Opfer.

Die Lage verschlechterte sich zusehends und Gleichgültigkeit und Apathie, sogar gegenüber dem eigenen Schicksal, machten sich mehr und mehr breit. Der walisische Journalist Gareth Jones, der die Ukraine 1930 und im März 1933 besucht hatte, merkte an, dass sich die ukrainischen Bauern während seiner ersten Reise über den Mangel an Brot beklagten. Auf dem Höhepunkt des Holodomor sagten sie hingegen, sie seien dem Tode geweiht und „sie töten uns“.

Für diesen Sinneswandel gibt es eine physiologische Erklärung. Zu Beginn einer andauernden Hungersituation verspürt der Mensch ein starkes Hungergefühl, Unzufriedenheit und Zorn. Später wandelt sich dies in stumme Hoffnungslosigkeit; alle Gefühle, ja, das gesamte Verhalten dient nur noch einem Zweck, den Hunger zu stillen. In einem solchen Zustand ist es unmöglich, effizient zu arbeiten oder zu handeln. In der Situation extremen Hungers nivellieren sich moralische Werte und ethische Normen. Zu den extremen Hungersymptomen gehörten aufgedunsene Bäuche und geschwollene Beine und Hände. Die Hungernden verloren den Verstand und irrten ziellos durch die Gegend, verübten Selbstmord oder begingen Morde. Sie töteten Kinder, die sie nicht ernähren konnten, um ihnen das Leiden zu ersparen. Vor dem Hintergrund des totalen Kollapses der Psyche kam es zu Fällen von Kannibalismus.

Danach bildeten sich in der Gesellschaft zwei neue Klassen heraus, nämlich solche, die zu essen hatten und jene, die nichts zu essen hatten. Unter den Bedingungen des völligen Fehlens von Lebensmitteln nahmen die Beziehungen zwischen ihnen, auch vormals nahestehenden Menschen oder Verwandten, erwartungsgemäß grausame Formen an.

Ein erschütterndes Merkmal des Holodomor war die äußerst hohe Sterblichkeit unter den Kindern. Kinder starben jeweils früher als Erwachsene. Da die Eltern nicht im Stande waren, ihrem Kind beim Sterben zuzusehen, fuhren sie es in die nächstgelegene Stadt und ließen es dort zurück; häufig in Einrichtungen, Kliniken, an Bahnhöfen oder einfach auf der Straße. Aus den Zufluchtsstätten flüchteten die Kinder und schlugen sich bettelnd und stehlend durch. Am schlimmsten erging es den Neugeborenen, weil deren Mütter sie nicht stillen konnten.

Aus dem Tagebuch von Nestor Bilous:

16.04.1933 Ostern. Ich war auf der Arbeit. In der Genossenschaft wurden Furchen gezogen, im Dorf aber war kein Mensch zu sehen. Früher herrschte hier Heiterkeit, es gab Schaukeln, man hörte die Zieh-harmonika, und es gab alle möglichen Spiele. Aber heute herrschen überall Mutlosigkeit und Hunger. Als Festessen gab es dünnen Borschtsch und ein wenig Bratkartoffeln. Milch für den Milchbrei hat uns unsere Taufpatin Man’ka gegeben. Kalychotsch Pylyp fand in der Schlucht mit Karbolsäure durchtränktes Fleisch von einem verendeten Pferd und nahm es mit nach Hause.

17.04.1933 Heute werden wir 11 Hungertote begraben.

30.04.1933 Es regnet unablässig und es ist kalt. Die Aussaat geht sehr langsam voran, weil es kein Korn gibt. Pferde gibt es auch keine und falls jemand ein Pferd hat, dann ist es so sehr geschwächt, dass es nicht in der Lage ist, die Egge zu ziehen. Daher wird es dieses Jahr eine noch geringere Aussaat geben. Die Menschen sterben ständig. In eine Grube kommen etwa sechs Verstorbene, weil es niemanden mehr gibt, der ein Grab ausheben könnte.

30.04.1933 Am 27.04. starb Butenko Mykola Fedorowytsch, ein junger 22-jähriger Mann, ein echter Gardist – großgewachsen und gutaussehend. Er starb nur deswegen an Hunger, weil die Dorfverwaltung keinen Identitätsnachweis an den Sohn eines entkulakisierten Vaters ausgestellt hatte. Und ohne Identitätsnachweis gibt es keine Anstellung. Im Frühjahr, ja, da gab es Arbeit, aber da war er schon völlig entkräftet und konnte deswegen nicht mehr arbeiten. So musste er vor Hunger sterben.

3.05.1933 Seit dem 08.05. ist es wärmer geworden, die ganze Saat geht auf. Die Rübensämlinge wer-den von Käfern und Flöhen aufgefressen. Wir bräuchten Regen, aber es regnet nicht. Die Kolchosen wollen mit der Aussaat nicht aufhören. Sie werden wohl bis zum St. Peters und Paulstag weiter säen. Die Menschen sterben ständig vor Hunger. Am 12.05. starb Tschorna Paraska. Eine Aktivistin und Kandidatin der Partei. Als die Leute fürs Nichterfüllen der Getreidenorm verraten wurden, hat sie in der Schule vor Freude getanzt. Und jetzt ist sie selbst wie ein Hund verreckt.

20.05.1933 Jeden Tag sterben Leute vor Hunger. Der Dorfrat hat eine Sanitärkommission bestimmt, die sich um die Leichen und Begräbnisse kümmern soll, weil es niemanden mehr gibt, der das machen könnte. Der Dorfrat schickt die Leute hinaus, um große Gruben für etwa 10 Leichen auszuheben, die dann wieder zugeschüttet werden. Viele Menschen, Erwachsene und Kinder, sehen aus wie lebende Tote.

10.06.1933 Auf den Stationen rund um Charkiw und auf den Feldern sterben die Menschen vor Hunger – und niemand sammelt sie ein. So ist zum Beispiel Kostenko Mykola vor einem Monat in der Nähe von Tahanka gestorben und niemand hat bis heute die Leiche weggeräumt. Und das obwohl die Kommandeure der Roten Armee jeden Tag an ihr vorbeifahren. Aber es kümmert keinen, dass die Leiche bereits stark verwest ist und man sich in ihrer Nähe nicht aufhalten kann.

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Quelle

Broschüre des Ukrainischen Instituts für Nationales Gedenken